Antike Familien-Fotografien: Ein Karton voller alter 9×12-Glasnegative um 1930
Jüngst hatte ich einen kleinen Karton voller historischer Glasplatten-Negative auf dem Schreibtisch stehen – Privatfotografien aus der Weimarer Republik. So etwas interessiert mich sehr und ich habe einige dieser Motive digitalisiert. In diesem Beitrag zeige ich meine Auswahl und ich mache mir einige Gedanken zu den Bildern. Sie sind bald 100 Jahre alt.
In diesem Beitrag geht es um Heinrich W., Rechtsanwalt aus Weiden in der Oberpfalz – also eher um einige seiner Fotografien, welche über 90 Jahre nach deren Belichtung irgendwie bei mir gelandet sind. Das ist er übrigens mit seiner Familie:
Man beachte die kleine, drapierte Puppe unten, sie taucht gleich wieder auf. Im ganzen sind die Fotografien aus dem Karton sehr positiv in ihrer Ausstrahlung und es macht einfach Freude, sie sich anzusehen. Einige der antiken Glasplatten waren leider schon gebrochen – wie diese hier, rechts zu sehen. Die meisten aus der Kiste sind jedoch intakt, wenn auch sehr verschmutzt.
Dieser Heinrich W. scheint mir ein besonders kinderlieber und musischer Mensch gewesen zu sein. Und dieses alte Foto von ca. 1930 mit den Kindern ist einfach so schön positiv in seiner Ausstrahlung. Der Titel lautet: „Lustige Gruppe vor dem Beerengarten“. Denn in den Pergaminhüllen mancher Glasnegative stecken kleine selbst geschriebene Notizzettel vom Fotografen. Zunächst soll aber etwas zu den Glasplatten erklärt werden. Was ist das überhaupt?
Fotografische Platten aus Glas nutzte man früher sehr häufig, als Rollfilm auf einem dünnen, rollbaren Kunststoffträger noch nicht industriell vertrieben- oder zu teuer- oder noch zu grobkörnig- oder noch nicht verbreitet war. Die typische Kamera von eher wohlhabenden Leuten der 1920er und 1930er Jahre war sicherlich die 9×12-Plattenkamera:
Mit genau so einer Kamera (9×12 ist das Format der Glasplatten in Zentimeter) hatte Heinrich W. um 1930 die hier gezeigten Fotografien aufgenommen.
Die Glasplatte musste man in der Dunkelkammer in so eine Kassette einschieben und diese Kassette setzte man dann im Grünen hinten an die Kamera an. Für jedes einzelne Foto benötigte man eine einzelne Kassette bzw. eine einzelne Glasplatte. »Knipsen« war also mit solch einer Plattenkamera nicht so gut möglich. Ich hatte jüngst auch mit solch einer 100 Jahre alten Kamera fotografiert.
Nach dem kurzen technischen Exkurs, soll es aber geschwind wieder zum interessanten Teil kommen:
Von einem Ausflug nach Bayreuth: Heinrich W. war neben seiner Tätigkeit als Jurist offenbar ein sehr kulturell interessierter, humorvoller Familienmensch. Viele seiner Fotografien inszenierte er (oft mit etwas Ironie). Im Bild ist am Mann übrigens auch die typische Kameratasche aus Leder zu sehen. Die Plattenkamera selber stand gewiss auf einem Stativ und wurde vermutlich mit einem Autoknips ausgelöst oder eines der Kinder musste dies tun. Diese Aufnahme ist ganz sicher von vor 1945, denn der Adler auf dem „Sonnentempel“ in Bayreuth – im Hintergrund zu sehen – wurde 1945 abmontiert. Auf Wikipedia sind diese Gebäude auch zu sehen.
Das ist der Karton voll mit den alten, historischen Familienfotografien.
Portät eines Buben, 1930er Jahre. Das müsste einer der Söhne sein.
Porträt eines Mädchens, antik kann man sagen: Das Mädchen wäre heute schon über 100 Jahre alt.
Dieses Porträt finde ich sehr interessant wegen dem Stroh, der Schüssel hinten links, dem komischen Granitblock und natürlich wegen der unscharf abgebildeten Frau im Hintergrund mit dem weißen Kragen. Dieser Anzug, dieses Kleid möchten gar nicht so recht zu dem schroffen Umfeld passen. Es ist eben die »Sonntagskleidung«, die im ländlichen Milieu eben nur an diesem Tag zum Schwof heraus geholt wurde – oder eben Sonntags für die Kirche. Umso interessanter sind die inhaltlichen Kontraste solch einer Fotografie für den heutigen Betrachter. Unten rechts sieht man, wie sich hier die Silbergelatine (die fotografische Schicht) von der Glasplatte gelöst hat.
Die meisten der im Karton enthaltenen Negative sind jedoch ziemlich langweilig für alle Außenstehende – 19 gleiche Ansichten von Weiden möchte ich hier nicht zeigen und auch nicht die vielen unscharfen oder eher belanglosen Fotografien. Wie hatte ich also meine knackige Auswahl möglichst elegant getroffen?
Ich nahm meine Leuchtplatte und mein Tablet mit einer App zum Negativ-Digitalisieren. Dieses Programm nutze ich jedoch nur als »Live-Vorschau«: Es wandelt das S/W-Negativ auf der Leuchtplatte sofort in ein Positiv um und somit sieht man gleich, ob das Motiv interessant genug ist oder nicht. Die meisten der Fotografien waren natürlich nicht interessant genug. Die antiken Glasplatten sind alle auch ziemlich schmutzig und man hat beim Durchschauen den silbrigen Staub der Beschichtung an den Händen. Das Sichten eines solchen Archivs ist also schon etwas anspruchsvoll und kostet Zeit. Außerdem waren viele Platten verklebt. Ich löste das Pergamin dann mit einem hölzernen, abgerundeten Eisstiel, den ich vorsichtig dazwischen schob. Nur so konnte ich manche Platten aus den Folien ziehen. Einige der Platten musste ich danach auch in Wasser einweichen, damit sich Zettel und Pergaminreste davon lösen konnten.
Das ist ein Auto der Marke »Brennabor«. Von diesem Hersteller hatte ich vorher noch nie etwas gehört. Auf dem Schild neben dem rechten Hosenbein des Fahrers kann man die Marke lesen (in der hoch aufgelösten Version dieses Fotos) und Kenner erkennen den Hersteller am „B“ oben am Kühlergrill. Ich denke, in solchen Autos mit so einem Chauffeur sind damals Fabrikbesitzer umher gefahren und eine ähnliche Klientel. Ich glaube nicht, dass dieser Wagen dem Heinrich W. gehörte. Ansonsten gäbe es nämlich noch viel mehr Bilder mit diesem Gefährt und garantiert mit fünf lachenden Kindern und der Puppe darin (was dem Chauffeur nicht gefallen hätte, dem Heinrich W. wohl umso mehr). Dies ist jedoch das einzige Bild davon im Karton. Man beachte auch das ADAC-Adler-Logo vorne links am Wagen und die Kurbel für den Anlasser vorne.
Heinrich W. war in seiner Freizeit Künstler. Er hatte sich offenbar häufig beim Malen in der Landschaft mit seiner Plattenkamera selber fotografiert – die Familie ringsherum springend oder aber stillhaltend.
Natürlich sind solche Fotografien inszeniert: Die Jungs mussten ihre Steine zum auf dem See hüpfen Lassen die ganze Zeit in dieser Position behalten, bis der Selbstauslöser der Kamera endlich »Klick« gemacht hatte. Das Mädchen hinten hatte auch eine Pose eingenommen. Und wie man sieht, hatten sie wohl Freude dabei.
Dies ist mein Lieblingsfoto dieser Auswahl von Motiven der historischen Glasplatten. Das Bild gehört zu den den beiden oben abgebildeten. Das war wohl ein schöner Sommernachmittag. Der Fotograf hatte wieder eine Idee für eine Inszenierung mittels Selbstauslöser und alle mussten wieder mitmachen. Mir gefällt bei dieser antiken Fotografie auch die »Luftperspektive« – dass die Berge im Hintergrund so blass erscheinen, während die Tiefen im Vordergrund genügend dunkel sind. Dies ergibt einen besonders malerischen Eindruck. Vermutlich hat dies etwas mit den orthochromatischen Platten zu tun, die für Rot kaum empfindlich sind, für Blau mehr. Und da in der Ferne hier ein höherer Blauanteil im Licht vorhanden ist, müsste diese eben blasser abgebildet sein. Auch das unvergütete Objektiv der alten Plattenkamera hat hierauf sicherlich einen Einfluss.
Alle Glasplatten im Karton befinden sich in solchen Pergaminhüllen. Außerdem finden sich viele kleine Schnipsel darin: Notizen zu den einzelnen Aufnahmen, oft mit Datum und Namen (allerdings für mich kaum lesbar).
Der Herr W. hatte hierfür einfach ausrangierte Kinderzeichnungen verwendet oder Reklamehefte. Von einer der Seiten dieser Werbebroschüren (über Aktenordner für Rechtsanwälte) kenne ich auch den Namen und den Wohnort des Fotografen.
Den Geburtstagstisch hatte man so wie heute auch schon vor 100 Jahren entsprechend fotografiert. Auch von mir gibt es so ein Foto. Heinrich W. hatte im Mai Geburtstag – laut dieser Internetseite. Hierzu passt auch der geschmückte Maistrauch in der Vase. Leider kann man auf der Vergrößerung nicht erkennen, was auf der Glückwunschkarte in der Bildmitte steht. Zwar ist das Platten-Format 9×12 ziemlich groß („Großformat“) und theoretisch sehr hochauflösend. Aber die alten Glasplatten und Objektive hatten nicht das hohe Auflösungsvermögen der fotografischen Technik der späteren Jahrzehnte. Aus diesem Grund hatte man seinerzeit häufig noch mit solch großen Filmformaten fotografiert. Spätestens ab den 1960er Jahren jedoch setzte sich endgültig das Kleinbild für „normale“ Ansprüche durch. Davor nutzte man noch sehr gerne Mittelformat-Rollfilm (den es heute ebenfalls noch gibt). Derlei Glasplatten jedoch bzw. das Format 9×12 wurde ab den 1940er Jahren sicherlich unpopulärer für den anspruchsvollen Fotoamateur: Die fotografische Auflösung der (schmaleren) Filme wurde immer besser.
Oben hatte ich den Fotografen ja bereits als Maler gezeigt. Hier hatte ich auf einer der Filmplatten ein abfotografiertes Gemälde gesichtet. Dies müsste seine junge Frau (?) sein. Man beachte auf der Fotografie rechts auch diese Schmuckblume am schimmernden Kleid – Mode der späten 1920er / 1930er Jahre.
Das Foto wurde sicherlich so aufgenommen, dass sich gegenüber Mutter und Buben ein Fenster befand, durch welches diffuses Licht schien. Dazwischen befand sich die Kamera auf einem Holzstativ, nicht jedoch der Fotograf. Denn dieser hätte ja das hierfür wichtige Fensterlicht abgeschattet.
Ich war so frei, dieses S/W-Foto mit einem dieser Internet-Umwandlungs-Programme zu kolorieren. Es ist schon verblüffend, was derlei Software mit künstlicher „Intelligenz“ heute leisten kann. Plötzlich erscheinen uns solche uralten Fotografien, die Menschen darauf, noch etwas vertrauter.
Heinrich W. hatte sich mit der Kamera auch häufig selber als Künstler porträtiert. Im Karton gibt es eine ganze Menge an Negativen, die jeweils eine solche Pferde-Plastik zeigen. Ich dachte zuerst, es wäre immer die selbe. Aber er hatte viele davon angefertigt- und diese dann mit seiner Plattenkamera fotografiert.
Diese Platten fallen nun etwas aus dem Rahmen. Offenbar hatte der Heinrich W. einen Neubau um 1930 juristisch betreut. Jedenfalls finden sich ca. 15 unterschiedliche Aufnahmen dieses Hauses in dessen Entstehen fotografisch begleitet in der Kiste mit den alten Fotoplatten. Wie hatte man vor 90 Jahren ein Haus gebaut? Eigentlich ganz ähnlich wie heute. Nur Kräne gab es offenbar nicht.
Dies ist ein Detail aus der Aufnahme oben links. Auf dem Bildausschnitt zu sehen: Eines der Fahrräder, mit denen die Handwerker morgens auf den Bau gefahren sind, die Joppe darüber geschmissen, weil es mittags wärmer wurde. Am Lenker hängt ein Beutel – Dort ist sicherlich das Mittagessen drin oder zivile Kleidung. Drei Bierflaschen! Ziemlich groß. Eine umgekippte Schubkarre. Ich suche sehr gerne nach solchen Details auf alten Fotografien. Der Philosoph Roland Barthes bezeichnet solche Elemente auf einer Fotograf als ›Punctum‹. Sie erzählen dem Betrachter häufig (unfreiwillig) viel mehr als das eigentliche ›Studium‹:
Zentrale Begriffe des Essays [»Die helle Kammer«] sind das von Barthes eingeführte studium und punctum, die zwei unterschiedliche Wirkungen der Fotografie beschreiben. Studium sei das Interesse an einem Foto aufgrund der Bildung und kulturellen Prägung des Betrachters. Das Punctum hingegen sei der persönliche Zugang zur einzelnen Fotographie über ein zufälliges Detail, die sinnliche Wirkung auf den Betrachter.
Eine Fotografie einer typischen (Grund-) Schulklasse aus dieser Zeit. Seltsam nur, dass die Klasse nicht ganz auf der Platte abgebildet ist und die Lehrerin gar nicht in die Kamera schaut. Meine Großmutter war Jahrgang 1922. So muss es bei ihr auch in der Schule ausgehen haben. Vermutlich sind hier einige der Kinder von Heinrich W. mit dabei.
Diese Glasplatte ist sehr angegriffen: Die Schicht hat sich gelöst, das Bildsilber löst sich auf. Vermutlich wurde das Negativ damals nicht ausreichend gewässert. Doch was hier genau passiert ist, kann man nach den vielen Jahrzehnten unbekannter Lagerung natürlich nicht sagen. Ich finde dieses Porträt trotzdem interessant und es schaffte es daher in meine kleine Auswahl.
Zum Schluss noch ein schönes Kinderporträt um 1930. Offenbar war gerade Fasching und natürlich mussten die Kinder in ihren tollen Kostümen fotografiert werden.
Wie oben bereits angefragt: Falls jemand aus der Gegend Weiden / Oberpfalz kommt und diesen See bzw. die fotografierten, markanten Stellen wiedererkennt, so wäre ich sehr an einem aktuellen Foto dieser Stellen interessiert. Meine E-Mail-Adresse findet sich im Impressum dieser Seite.
Alte Fotoapparate können interessant sein, spannend sind dann aber – so wie heute auch – eher deren Ergebnisse. Nach dem Krieg wurden z. Bsp. in Landshut mehr historische Bauten zerstört, als während des Krieges. Die preußisch-technische Meßbildanstalt (o. so ähnl.) hat um 1900 viel bedeutende Architektur auf 30×40 Glasplatten mit Maßangabe zum Nachbau konserviert. Bis zum 2.WK, dann wurde das Archiv im Bombenhagel zerstört. Und wie freut man sich heute über irgendwelche Höhlenkritzeleien, Sensationsfund usw.